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Der Kamelhirte Aus Dem Morgenland

Der Kamelhirte aus dem Morgenland

Heute hatte ihn der Obsthändler erwischt! Schon viele Male hat er im Vorbeigehen eine Orange oder einen Granatapfel unbemerkt in seine Tasche gleiten lassen, doch noch nie wurde er dabei erwischt. Schon seitdem seine Eltern bei einem Brand ums Leben kamen, damals war er gerade einmal vier Jahre alt, schlug er sich mit kleinen Hilfsarbeiten und eben auch mit kleinen Diebstählen durchs Leben. Jetzt aber schrie der Obsthändler laut hinter ihm her, auch die ersten Wachen der Marktpolizei wurden schon auf ihn aufmerksam und nahmen die Verfolgung auf.

Meschad rannte so schnell er konnte durch die Gassen, um Ecken und Winkel herum, um seinen Verfolgern zu entkommen. Diesen Teil der Stadt kannte er so gut, wie er jeden einzelnen Faden seines dünnen Gewandes kannte. Denn viel mehr, als das, was er am Leibe trug, besaß er sowieso nicht. Das bisschen Geld, das er mit seinen kleinen Dienstleistungen verdienen konnte, reichte meistens kaum, um eine dünne Suppe oder ein altbackenes Fladenbrot vom Vortag zu bezahlen.

Nachdem er durch zwei Innenhöfe und über eine hohe Mauer geklettert war, hatte er seine Verfolger endlich abgehängt. Vollkommen außer Atem bemerkte er jetzt, daß er mitten in der Karawanserei gelandet war. Dort machte sich gerade eine große Karawane bereit zur Abreise. Ein dicker Mann mit einem riesigen Schnurrbart und einem noch größeren Turban rannte laut fluchend in dem Innenhof umher. Aus dem Wortschwall konnte Meschad nur heraushören, dass anscheinend ein Kamelhirte heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen war und dass das jetzt die Abreise verzögerte.

In diesem Augenblick fiel das Auge des Dicken auf Meschad. Er schrie ihn an, wo er denn die ganze Zeit geblieben wäre und dass er sich doch jetzt endlich sputen solle, sie hätten eigentlich schon längst aus der Stadt sein müssen. Meschad wollte zuerst protestieren, daß er doch überhaupt nicht der Gesuchte sei und so fort, doch dann fiel ihm ein, dass er ja doch gesucht wurde und daß sein Leben in dieser Stadt fortan anders verlaufen würde, als bisher. Notgedrungen ergab sich Meschad in sein Schicksal, bat den Dicken vielmals um Entschuldigung und begab sich zu der Karawane. Kaum dort angelangt, gab der Dicke den Befehl zur Abreise und die Karawane setzte sich in Bewegung.

Schon nach wenigen Minuten war die Karawane aus der Stadt heraus und die Landschaft weitete sich vor Meschads Augen. Zuerst ging es vorbei an Feldern, an kleinen Palmenhainen und an vielen kleinen Hütten, in denen die Bauern lebten. Doch schon nach wenigen Stunden wurde die Landschaft immer karger und auch immer weniger Menschen begegneten ihnen auf der Reise.

So trottete er am Ende der Karawane dahin, denn man hatte ihm die Aufgabe zugewiesen, den Kameldung zu sammeln und zu trocknen, da man diesen abends als Brennstoff verwenden würde. Als es dämmerte, bog der Dicke, der sich als Anführer der Karawane herausstellte, auf einen kleinen Weg ein, der sie zu einer kleinen Ansiedlung führte. Dort gab es einen Brunnen, weshalb dieser Ort als Nachtlager dienen sollte. Anscheinend hatte dieser Mann die Reise, zu der sie heute aufgebrochen waren, schon viele Male gemacht, denn er begrüßte die Bewohner dieser Siedlung freundlich und mit Namen.

Nachdem die Kamele von ihren Lasten befreit und ordentlich versorgt waren, durfte Meschad sich auch an das Lagerfeuer setzen, allerdings etwas abseits der Anderen. Durch seine Arbeit wollten diese nichts mit ihm zu tun haben. Aber es gab endlich etwas zu essen für ihn, das war jetzt erst einmal das Wichtigste!

Nachdem er sich ordentlich sattgegessen hatte, lauschte er den Gesprächen der anderen Hirten. Verstehen konnte er immer nur Gesprächsfetzen, weshalb das äußerst schwierig war. In deren Gespräch ging es anscheinend um die drei hohen Herren, die dieses Mal auf ihrer Reise dabei waren. So richtig Bescheid wusste eigentlich keiner der Hirten, was das für Männer waren, aber ihre feine Kleidung und ihr edles Gebaren wies sie als ranghohe Mitglieder des Hofstaates aus. Einer der Hirten meinte, es müsse sich um sehr gebildete Wissenschaftler handeln, denn sobald die Sonne untergegangen war, verließen sie das Lager und suchten den Himmel nach besonderen Sternbildern ab. Ein anderer Hirte meinte, er hätte den einen Herren von einem ganz außergewöhnlichen Stern reden hören. Wieder ein anderer Hirte meinte gehört zu haben, daß diese Herren ein neugeborenes Kind besuchen wollten. Aber das konnte sich keiner der Anwesenden wirklich vorstellen, solch´ eine Reise, mit all´ den Strapazen und all´ den Gefahren würde man höchstens wegen eines Königs unternehmen, aber doch nicht wegen eines kleinen Kindes – noch dazu eines Neugeborenen, das könne ja noch nicht einmal sprechen!

So oder so ähnlich verliefen viele weitere Tage, jeden Abend am Lagerfeuer saß Mesched abseits der Anderen und versuchte, den Hirten zuzuhören, die untereinander die Neuigkeiten austauschten, die sie im Laufe des Tages aufgeschnappt hatten.

Nachdem so viele Wochen vergangen waren, kamen sie endlich in die Nähe einer größeren Stadt. Meschad freute sich schon darauf, die fremde Stadt mit den vielen neuen Eindrücken zu entdecken. Aber die Karawane machte einen großen Bogen um die Stadt herum. Dort, am anderen Ende der Stadt, erhoben sich mehrere herrschaftliche Gebäude, auf die die Karawane jetzt direkt zusteuerte. Das musste die Festung des hiesigen Königs sein. Schon von Weitem sah das Ganze ehrfurchtgebietend aus.

Etwas außerhalb dieser Festung gab es eine Möglichkeit für die Karawane zu lagern. Die Tiere wurden wieder versorgt und auch die Menschen wurden von Angestellten des hiesigen Königs fürstlich versorgt. Meschad sah, wie sich die drei hohen Herren zu Fuß in die Festung begaben.

Kurze Zeit später hörte er, wie ein Bediensteter des Königs dem Anführer der Karawane ausrichtete, daß sie die nächsten Tage Gäste des Königs sein würden. Dem dicken Anführer konnte man ansehen, daß er sich über diese Einladung außerordentlich freute. Auch die Kamelhirten freuten sich sehr darüber, endlich nicht mehr den ganzen Tag lang neben ihren Tieren her durch die sengende Sonne laufen zu müssen. Meschad wusste nicht, was das für ihn bedeuten würde, denn er war noch nie Gast in solch´ einem Haus gewesen. Er beschloss, einfach einmal abzuwarten, was weiter geschehen würde.

Doch schon kurz, nachdem der Diener des Königs ihnen diese Einladung mitgeteilt hatte, kamen die drei hohen Herren schon wieder aus der Festung heraus. Sie redeten aufgeregt mit dem Anführer der Karawane. An seinem Gesicht konnte Meschad ablesen, daß diesem diese Nachricht überhaupt nicht schmeckte. Widerwillig schickte sich dieser in sein Schicksal, immerhin waren es diese drei Herren, die die Kosten für diese Reise bezahlten, und er gab den Befehl, die Lasten wieder aufzuladen, man würde unverzüglich weiterreisen.

Ein Murren ging durch die Reihen der Hirten, laut zu werden traute sich aber keiner. Schon eine halbe Stunde später war alles bereit, um wieder loszulaufen. Dieses Mal waren die drei hohen Herren am Kopf der Karawane, Meschad sah, wie sie andauernd zum Himmel hoch schauten und dann miteinander diskutierten. Dieser seltsame Stern, den auch Meschad vor ein paar Wochen das erste Mal am Himmel gesehen hatte, schien ihnen den Weg zu weisen, denn sie ritten genau auf ihn zu.

Der Weg führte sie durch eine karge, gebirgige Landschaft, in der ihnen aber andauernd Menschen begegneten. Viele Schaf- und Ziegenherden mit ihren Hirten sah man in der Landschaft. Schon nach knapp zwei Stunden gaben die drei hohen Männer erneut das Zeichen zum Halt. Jetzt war man am Rande einer kleinen Stadt angekommen. Die drei Männer saßen ab und gingen zu ihren Lastkamelen, aus deren Packtaschen sie verschiedene Gegenstände hervorholten. Meschad war wie immer am Ende der Karawane, deshalb konnte er nur ahnen, was diese Männer dort nun in den Händen hielten. Es sah aus wie kleine Schatztruhen oder Schatzkästchen, Meschad sah etwas Goldenes in der Sonne aufblitzen, aber mehr war nicht zu erkennen. Jetzt lagerte die Karawane an diesem Ort. Meschad konnte nur noch sehen, wie die drei Männer zu einem Gasthof nur ein paar hundert Meter von ihnen entfernt gingen, dann verlor er sie aus seinen Augen.

Mehrere Stunden später kamen die Männer zurück. Sie, die die ganze Zeit so in Gedanken versunken auf Meschad gewirkt hatten, wirkten jetzt ganz anders. Sie waren froh, scherzten und lachten und kamen sogar zu den Hirten und unterhielten sich mit ihnen. Dann riefen sie alle Männer zusammen und teilten ihnen mit, daß der Zweck ihrer Reise nun erfüllt sei und daß man am nächsten Morgen nach Hause, also zurück ins Morgenland aufbrechen würde.

Meschad fiel das Herz in die Hose! Nach Hause konnte er nicht, hatte er überhaupt ein Zuhause? Wenn er zurück in seine Stadt käme, würde die Polizei ihn bestimmt nach ein paar Tagen auffinden und in den Kerker werfen, das käme überhaupt nicht in Frage. Was sollte er tun? Wenn er sich einfach aus der Karawane wegstehlen würde, dann müsste er auf seinen Lohn verzichten, denn den bekäme er erst am Ende der Reise ausbezahlt. Er überlegte hin und her. Was hatte er zu verlieren? Selbst die Kamelhirten, eigentlich die unterste Schicht in der Rangfolge, mieden ihn, weil er so nach Kameldung roch. Schon Zuhause hatte er keine Freunde und wurde von Allen gemieden. Sollte er es wagen und hier ein neues Leben beginnen? Hier, wo ihn niemand kannte? Wo er ja noch nicht einmal die Sprache sprach? Er hatte Angst davor, zurückzukehren und er hatte Angst davor, wegzulaufen und in diesem fremden Land zu bleiben. Dann fielen ihm die drei Männer ein, die die ganze Zeit so ernst und verschlossen waren und jetzt auf einmal so ganz anders, so lebenslustig. Wen hatten sie heute getroffen? Konnte das wirklich dieses Neugeborene sein, von dem die Hirten erzählt haben? Meschad konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. So verging der ganze Abend, bis weit nach Mitternacht. Irgendwann, mitten im Dunkel der Nacht, sah Meschad auf zum Himmel und sah wieder einmal diesen besonderen Stern. Der schien regelrecht über dem Gasthof, nein, über dem Stall daneben zu leuchten. Meschad nahm allen Mut zusammen und verließ das Lager. Mitzunehmen hatte er sowieso nichts, nur die Fetzen, die er am Leibe trug.

So ging er die paar hundert Meter bis zu diesem Stall. Als er dort angekommen war, sah er, daß die Türe nur angelehnt war. Er öffnete sie ein kleines Stück weiter, dann sah er ein junges Paar, das gerade dabei war, sein Gepäck auf einen kleinen Esel zu laden. Noch ehe Meschad etwas sagen konnte, entdeckte ihn der junge Mann. Er sah ihn mit einem freundlichen Gesicht an und lud ihn ein, hereinzukommen. Meschad blickte an sich hinunter, sah seine zerrissene Kleidung und roch den strengen Geruch nach Kameldung und dachte nur: „Ich kann noch nicht einmal in einen Stall, so wie ich aussehe und rieche!“ Doch der junge Mann blieb freundlich und lud´ ihn erneut ein, hereinzukommen. Jetzt sah Meschad in der Futterkrippe das neugeborene Kind liegen. Dieser Anblick hatte etwas so friedvolles, daß Meschad es wagte, in den Stall einzutreten. Der junge Mann ermunterte ihn mit den Worten: „Geh´ nur hin, wir müssen weiter packen und bald aufbrechen, aber so viel Zeit bleibt uns noch!“ Meschad trat jetzt zu der Krippe hin und schaute auf das Kind. Dieses war trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit hellwach und schaute ihn mit aufmerksamen Augen an.

Jetzt hörte Meschad eine helle Stimme, die zu ihm sagte: „Was hast du mir mitgebracht?“ Erschrocken drehte Meschad sich um und schaute den jungen Mann an. Dieser aber war gerade dabei, eine schwere Tasche auf den Esel zu hieven und konnte es also nicht gewesen sein. Außerdem klang die Stimme, die er eben gehört hatte, so ganz anders, als die des jungen Mannes. Kaum drehte er sich wieder zu dem Kind um, so hörte er erneut diese Stimme: „Was hast du mir denn nun mitgebracht?“ Dabei sahen die Augen des Kindes ihn so an, als ob dieses ihm diese Frage gestellt hätte. Meschad sagte leise, so daß das junge Paar ihn nicht hören konnte: „Nichts! Nichts habe ich, was ich dir geben könnte! Ich habe nichts!“ Das Kind sah ihn die ganze Zeit unverwandt an und dann hörte Meschad diese Stimme erneut: „Aber du bist so traurig, warum denn?“ In diesem Moment fühlte Meschad seine ganze Traurigkeit. Seine Trauer darüber, daß seine Eltern so früh gestorben waren, sein Leben als Tagelöhner und Straßendieb, daß sogar die Hirten ihn als Ausgestoßenen behandelt hatten und daß er jetzt ohne seinen Lohn in einer fremden Stadt war und nicht wusste, wie es weitergehen konnte. Auf einmal brach´ es aus Meschad heraus, die ganze Wut, die ganze Enttäuschung, sein ganzes Leben. „Nichts ist es, was ich dir geben kann. Meine Eltern starben, als ich noch ein Kind war, seither lebe ich auf der Straße, betrüge und stehle, ich kann nicht zurück in meine Heimat, selbst die Kamelhirten, die mit mir kamen, meiden mich wegen meines Gestanks, niemand will etwas mit mir zu tun haben, die Menschen kennen noch nicht einmal meinen Namen – ich habe einfach nichts, was ich dir geben kann!“

Jetzt huschte so etwas wie ein Lächeln über das Gesicht des kleinen Kindes. Seine Augen strahlten und wieder hörte Meschad diese Stimme: „Aber das ist doch genau das, was ich von dir haben will! Gib´ mir deine Traurigkeit, gib´ mir deine Mutlosigkeit, gib´ mir deine Angst und alles, was dich bedrückt!“

In diesem Moment begann Meschad zu weinen. Zuerst ganz verhalten, lange hatte er nicht mehr geweint, das Leben auf der Straße hatte es ihm abgewöhnt. Doch dann wurde sein Schluchzen immer lauter und hemmungsloser. So verging sicherlich eine gute halbe Stunde. Dann hörte er wieder diese Stimme: „Ich danke dir Meschad, denn du hast mir wirklich alles gegeben, was du hattest! Du hast mir dein Herz geöffnet, das ist das größte Geschenk, welches ein Mensch mir nur machen kann!“

In diesem Moment kam die junge Mutter an die Krippe. Sie sah Meschad lächelnd – und vielleicht auch wissend an – und nahm dann das Kind aus der Krippe. Dann half ihr ihr Mann auf den Esel. Die junge Frau meinte entschuldigend: „Es tut uns leid, wir müssen jetzt wirklich aufbrechen!“ Dann nahm der junge Mann den Esel am Zügel und sie verließen den Stall und verschwanden langsam im Dunkel der Nacht.*

 

Wir wünschen von ganzem Herzen
ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest,

Jürgen und Elisabeth Katzenmeier
Essigmanufaktur zur Freiheit

 

*Wer gerne wissen möchte, wie die Geschichte weitergegangen ist, der findet sie in der Bibel im Matthäusevangelium, im 2. Kapitel.

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