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Esra, Der Hirte Aus Betlehem

Esra, der Hirte aus Betlehem

Schon wieder hörte Esra dieses Geräusch. Ein Geräusch, das ihn noch immer in Angst und Schrecken versetzte. Die anderen Hirten taten einfach so, als ob sie es überhaupt nicht gehört hätten. Doch Esra traf es wieder einmal mitten ins Herz. Jetzt saß er schon so weit weg, wie möglich, weg von der Dunkelheit der Nacht. Doch jedes Mal, wenn er in der Ferne das Brüllen eines Löwen hörte, packte ihn erneut die Angst, eine Angst, gegen die er sich nicht wehren konnte.

Als Jüngster seiner Familie hatten seine vier weitaus älteren Brüder schon immer viel Freude daran gehabt, mit ihm die schlimmsten Streiche zu spielen. Für sie war er einfach nur der kleine Esra, mit dem man alles machen konnte. Mit Grauen erinnerte er sich jetzt an so manchen Streich, den die Vier voller Schadenfreude an ihm verübten. So kam es dann auch, dass er von ihnen dazu verdonnert wurde, die Ziegen und Schafe der Familie zu hüten.

Tagsüber war diese Arbeit ja noch ganz in Ordnung. Esra war wenigstens weg von seinen Brüdern, die ansonsten sowieso nur irgendwelchen Schabernack mit ihm angestellt hätten. Doch sobald die Sonne über den Hügeln im Westen unterging und die Dämmerung einbrach, veränderte sich für Esra alles.

Die Geräusche der Nacht setzten ihm jedes Mal arg zu. Die anderen Hirten aus den umliegenden Dörfern kümmerten sich nicht um ihn. Im Gegenteil, die meisten von ihnen waren mehr oder weniger Ausgestoßene. Nach Ziegen- und Schafdung stinkende Gesellen, die man möglichst nicht in seiner Nähe haben wollte. Diese Ausgrenzung hatte sie hart gemacht – hart gegen sich selbst und noch mehr, gegen jeden Anderen.

So konnte er von diesen Männern mit ihren verbitterten und finsteren Gesichtern kaum Hilfe erwarten. Nacht um Nacht erlitt er das gleiche Schicksal – die Angst fraß ihn schier auf.

Morgens, wenn endlich die Sonne die dunklen Schatten vertrieb, war er dann zwar erleichtert, dennoch lag auch jetzt wieder nur ein Tag zwischen ihm und den Schrecken der nächsten Nacht. So ging es für ihn weiter, im Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen Angst und Erleichterung, bis zu jener denkwürdigen Nacht…!

Zuerst war alles wie immer. Als es dunkel wurde, zündeten die Hirten ihr Feuer an, bereiteten gemeinsam ein einfaches Mahl zu, das dann unter lebhaften Gesprächen verzehrt wurde. Danach wurden die Wachen eingeteilt. Das bedeutete, dass immer einer von ihnen wach bleiben musste, um nach dem Feuer und den Tieren zu schauen. Da diese Einteilung von den Ältesten gemacht wurde, war es ganz natürlich, dass diese für sich selbst die bequemsten Zeiten bestimmten. Zum Beispiel direkt nach dem Abendessen, wenn sowieso noch niemand schlief oder aber auch im Morgengrauen, wenn die Meisten sowieso schon wach wurden.

Esra allerdings bekam zu seinem Unglück stets die Mitternachtswache. Das war schlicht die Unbeliebteste von allen. Man konnte vorher kaum schlafen und hinterher war die Nacht auch fast schon vorbei.

Doch in jener Nacht war plötzlich alles ganz anders. Esra hatte vielleicht vor einer halben Stunde seine Wache angetreten, als es plötzlich um ihn herum taghell wurde. Nein, das stimmte so nicht, es war heller als am hellsten Tage. Selbst die anderen Hirten waren jetzt schlagartig wach. Esra war voller Angst, doch auch die anderen Hirten, die ja sonst nichts erschrecken konnte, zitterten sichtbar am ganzen Leibe.

Jetzt sahen sie eine Gestalt am Himmel, wie sie keiner von ihnen je gesehen hatte. Groß und schön, aber auch irgendwie furchteinflößend, stand sie dort am Himmel. Plötzlich hörten sie eine Stimme mit den Worten: “Fürchtet euch nicht!“ Auch wenn die Hirten noch immer zutiefst erschrocken waren, so bewirkten diese Worte doch auf einmal einen tiefen Frieden, so, als ob diese Gestalt die Angst, die sie alle bemächtigt hatte, von ihnen wegnehmen könnte. Esra fiel auf einmal der Rabbiner ein, der immer wieder von Begegnungen der Vorväter mit Engeln erzählt hatte – dies hier musste wohl so ein Engel sein.

Doch dieser Engel sprach noch weiter: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“

Dann war dieser eine Engel nicht mehr allein, sondern der ganze Himmel war gefüllt mit den wunderbarsten Gestalten, die alle irgendwie leuchteten und sangen und Gott lobten und dann gemeinsam sprachen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Langsam entfernte sich dann die Schar dieser Wesen und die Hirten standen jetzt wieder alleine vor ihren Zelten. Ein ganz eigenartiges Leuchten war allerdings immer noch um sie herum zu sehen, wie als Beweis, dass das, was sie gerade erlebt hatten, wirklich geschehen war. Ephraim, der älteste der Hirten, ergriff als erster das Wort und sprach „Lasst uns nach Betlehem hineingehen und uns das anschauen, was uns diese Boten Gottes gerade verkündet haben. Es muss etwas Großes sein, so etwas habe ich bisher weder selbst erlebt, noch jemals davon gehört.“

Die anderen Hirten waren alle der gleichen Meinung wie Ephraim und so machten sie sich auf, diesen eigentümlichen Stall zu suchen, wo der Heiland in einer Futterkrippe liegen sollte. Während sie in Richtung der Stadt liefen, ging Esra diese ganze Begegnung mit den Engeln immer wieder durch den Kopf. Zuerst der Schrecken, der ihm durch Mark und Bein ging. Dieses helle Licht, dann diese schöne, doch auch furchterregende Gestalt und dessen ganz besondere Stimme, die eine solche Autorität hatte, dass sie sogar seine Angst in diesem Moment ganz einfach wegnehmen konnte. Dann waren da noch die Worte, die dieser Engel gesagt hatte. Der lang erwartete Heiland, der Messias, der, gerade der, sollte in einer Futterkrippe liegen? Der sollte vom ersten Tag seines Lebens genauso nach Vieh riechen – oder besser, stinken, wie er selbst? Das konnte und vielleicht auch, wollte, sich Esra so nicht vorstellen. Weil diese Gedanken für ihn so ungeheuerlich waren, verwarf er sie und dachte lieber darüber nach, ob die Ankunft des Messias irgendetwas in seinem Leben verändern würde. Aber auch hier stieß Esra schnell an seine Grenzen, was sollte sich in seinem Leben denn verändern? Dieser Heiland, der kam doch ganz sicher zu den Reichen und Angesehenen, zu denen, die rechtschaffen lebten und die große Spenden in die Tempelkasse geben konnten, doch ganz sicher nicht zu ihm, dem armen Hirten Esra.

Während er noch so am Nachdenken war und seine Gedanken sich immer weiter eintrübten, hatten sie schon die Stadt erreicht. Die Hirten hatten sich die ganze Zeit von diesem eigentümlichen Licht leiten lassen, das irgendwie immer stärker wurde, je näher sie der Stadt kamen. Jetzt standen sie vor einem kleinen, heruntergekommenen Stall, über dem dieses Leuchten ganz besonders stark war.

Als sie jetzt in diesen Stall eintraten, sahen sie alles genau so, wie es dieser Engel es ihnen beschrieben hatte. Ein junges Paar stand vor einer Futterkrippe, in der ein neugeborenes Kind lag. Alleine das für sich war ja schon etwas ganz Besonderes, dass sie alles ganz genau so antrafen, wie es dieser Engel ihnen vorhergesagt hatte.

Doch noch viel wundersamer war es zu sehen, dass dieses ganz besondere Leuchten, das den Stall und die Stadt und die ganze Gegend auf diese ganz besondere Weise erhellte, alles von diesem kleinen, ja fast winzigen Kind auszugehen schien.

Ephraim, als ihr Ältester, berichtete dem jungen Paar, was sie draußen vor der Stadt gesehen und erlebt hatten, von dem seltsamen Licht, von dem Engel und von der gesamten himmlischen Schar. Während die Anderen immer noch aufgeregt erzählten und sich gegenseitig in farbenfrohen Schilderungen übertrafen, zog es Esra zu diesem kleinen Kindlein hin. Irgendwie wusste er, dass diese Geburt, ja, dass dieses Kind, doch etwas mit seinem Leben zu tun hatte.

Plötzlich bemerkte er es. Es war ihm im Trubel der letzten Stunden überhaupt nicht aufgefallen. Doch jetzt wurde es ihm bewusst. Auf einmal war es ihm ganz klar. Das, was bisher sein ganzes Leben bestimmt hatte, war nicht mehr da. Die Angst war weg!

Die Angst hatte einer Freude Platz gemacht, wie sie Esra in seinem ganzen Leben noch nicht gespürt hatte. Esra weinte vor Freude, es war, als ob er in diesem Moment das erste Mal in seinem Leben wirklich Luft holen könnte, als ob eine schwere Last von seinem Rücken genommen worden wäre. Er konnte es kaum fassen, dieses Kind war wahrhaftig der Heiland und noch besser, dieses Kind war für ihn gekommen. Aber nicht nur für ihn, sondern, wenn dieses Kind hier, in dem schmutzigen Stall, in der Futterkrippe, umgeben von Hirten und Vieh, sein Leben so verändern konnte, dann, ja dann würde es auch das Leben jedes anderen Menschen auf Erden verändern können.

Als später in der Nacht die Hirten zurück bei ihrem Vieh waren und sich noch immer aufgeregt vom Erlebten erzählten, da dachte Esra daran, dass sein Leben von nun an anders sein würde. Ganz anders.

Und wenn es später in seinem Leben Momente gab, in denen die Angst zurückkehren wollte, dann dachte Esra an diese wunderbare Nacht, an das Kind und daran, dass Gott seinen Sohn in die Welt geschickt hatte, um die Angst zu besiegen und dass einem Gott, der so etwas vollbringen konnte, nichts, wirklich überhaupt nichts unmöglich sein kann. *

 

Mit den besten Wünschen für ein
frohes und gesegnetes Weihnachtsfest,

Jürgen und Elisabeth Katzenmeier
Essigmanufaktur zur Freiheit

*Wer gerne die ganze Geschichte lesen möchte, der findet sie in der Bibel im Lukasevangelium, im 2. Kapitel.

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